Die weite Sargassosee * Jean Rhys

„Es gibt immer eine andere Seite, immer.“

In einem alten Herrenhaus auf Jamaika wächst Antoinette Cosway in einer Zwischenwelt heran: auf der einen Seite die einheimischen Dienstboten, ihre Lieder und Rituale, auf der anderen Seite die weißen Plantagenbesitzer, die sich als Herren über die Insel begreifen. Es ist eine Zeit des Umbruchs, die schwarze Bevölkerung begehrt erstmals auf. Als Antoinette Mr. Rochester heiratet, einen Mitgiftjäger aus England, prallen Welten aufeinander. – Bis zum Erscheinen von Jean Rhys’ Roman im Jahr 1966 kannte man Mr. Rochesters Frau nur als die »Verrückte« in Charlotte Brontës Roman ›Jane Eyre‹ – in der brillanten Neuübersetzung von Brigitte Walitzek kann nun die tragische Lebensgeschichte der karibischen Schönheit wiederentdeckt werden. Klappentext

„Gerechtigkeit. Ich habe es aufgeschrieben. Ich habe es mehrmals aufgeschrieben, und jedes Mal sah es für mich aus wie eine verdammte, unverfrorene Lüge. Es gibt keine Gerechtigkeit.“

S. 173

Jean Rhys Roman kaufte ich mir, nachdem ich „Guten Morgen, Mitternacht“ von ihr gelesen hatte und Rhys Schreibstil mich komplett in ihren Bann zog. Ich wusste bis dato weder, dass „Die weite Sargassossee“ ihr bekanntestes Werk ist, noch dass es sich auf DEN Roman aller Zeiten bezog: „Jane Eyre“

Inhalt

Auf einem kleinen Stück verwilderten Land auf Jamaika wächst die Protagonistin Antoinette mit ihrer innerlich abwesenden Mutter und einem jüngeren Bruder auf, der vor allen anderen wegen einer Krankheit versteckt wird. Als ihr Vater stirbt, für den es die zweite Ehe war, ziehen sich Nachbarn und Bekannte von der Familie zurück. Nicht zuletzt, weil ihr Vater ein Sklavenhalter war und diese kurz zuvor abgeschafft wurde. Der kompakte Roman thematisiert die Kolonialzeit und das Patriarchat.

„Wenn die alte Zeit geht, muss man sie gehen lassen.“

S. 9

Ihre Mutter heiratet einen neuen Mann und vieles scheint sich zum Guten zu wenden. Doch nach einem tragischen Ereignis kommt Antoinette zu ihrer Tante und auf eine Mädchenschule. Als sie siebzehn ist, verheiratet ihr Stiefvater sie mit einem gut aussehenden jungen Engländer.

Ab hier wird der Roman abwechselnd aus der Perspektive des jungen Ehemannes Mr. Rochester und Antoinette erzählt. Am Anfang habe ich diesen Sprung der Erzählperspektive bedauert, doch war dies ein perfektes Stilmittel, seine Sicht der Dinge zu erzählen. Den anfänglichen Unmut über die Trauung, das Geschäft der Mitgift sowie das befremdliche Leben auf der Karibikinsel. Eine Vegetation, die ihm zuerst Angst macht, doch im Laufe der Monate auf dem Anwesen Coulibri lieben lernt. Als ein mysteriöses Schreiben eines Familienmitglieds von Antoinette ihn erreicht, sieht er seine Angetraute in einem anderen Licht und fühlt sich betrogen und getäuscht.

Die zuvor zarte entstandene Zuneigung und vielleicht Liebe, die er hätte für Antoinette weiter entwickeln können, kippte in Wut und Hass.

„Wenn ein Mann dich nicht liebt, hasst er dich umso mehr, je mehr du dich bemühst..“

S. 125

Antoinette hat nur eine einzige Verbündete aus ihrer Vergangenheit mit in die Gegenwart nehmen können, ihre Haushälterin Christophine. Bei ihr sucht sie Trost und Rat. Als diese sich dem Wunsch Antoinettes beugt und einen Voodoo Zauber anwenden soll – hier Obeah – nimmt das traurige Schicksal dieser beiden Liebenden ihren Lauf.

„Er ist kein Mann, der dir hilft, wenn er sieht, wie du zerbrichst. Nur die Besten können das. Die Besten und manchmal die Schlimmsten.“

S. 186

Der Roman wurde großartig übersetzt von Brigitte Walitzek.

ISBN: 978-3423145718

Taschenbuch: € 10,90 dtv Verlag 2017

Erstmals erschienen 1966 Titel: >Wide Sargasso Sea<

Übersetzerin: Brigitte Walitzek

Achtung Spoiler. Wer also die Geschichte von Jane Eyre nicht kennt und nicht wissen will, wie es endet, sollte hier aufhören zu lesen.

Im folgendem Text setze ich beide Romane in Beziehung zueinander.

Doch ist nun dieser Roman als eine Art Vorgeschichte von „Jane Eyre“ zu sehen?

Fakt ist, dass dieser in den 60ern entstandene Roman in einer engen Beziehung zu Brontës „Jane Eyre“ steht. Zwischen beiden Romanen liegen ca 120 Jahre. Jean Rhys deutet auf S. 130 an, dass ihr Mann Mr. Rochester Antoinette Bertha nennt. In „Jane Eyre“ heißt die wahnsinnige erste Frau Bertha Antoinette Mason.

„Wenn er an meiner Tür vorbeikommt, sagt er: >Gute Nacht Bertha.< Er nennt mich nie mehr Antoinette. Er hat erfahren, dass meine Mutter so hieß.“

S. 130

Während bei Brontë die Geisteskranke am Rande erwähnt wird, kommt die Figur Jane Eyre bei Rhys nicht ein einziges Mal vor. Daher sind beide Romane komplett getrennt voneinander zu betrachten und doch wiederum nicht. Es werden zwei unabhängige Zeiten beschrieben. Einmal bei Rhys die Ehe von Mr. Rochester und die gemeinsame Zeit auf Jamaika mit Antoinette Mason geb. Cosway als Hauptfigur. Und bei Brontë die Zeit, als er mit ihr nach England zurückkehrt und seine verrückte Frau auf dem Dachboden wegsperrt. Bei Brontë ist Jane Eyre die Protagonistin.

Sind sich die Protagonistinnen ähnlich?

Wenn man beide Romane in Beziehung zueinander setzt, erkennt man eindeutig Parallelen. Antoinette sowie Jane sind beides intuitive, temperamentvolle Personen. Beide auf ihre Art rebellisch und haben sogar eine ähnliche Vergangenheit: Eine einsame und lieblose Kindheit. Vielleicht hat sich Mr. Rochester genau deswegen in beide verliebt? Äußerlich könnten sie wohl verschiedener nicht sein. Antoinette wird von Rhys als eine Schönheit (wie ihre Mutter) bezeichnet und Jane von Brontë eher als gewöhnlich. Sowie auch Mr. Rochester bei Brontë optisch kein Herzensbrecher gewesen sein soll. Die Frage ist, ob Mr. Rochester überhaupt in der Lage war wahre Gefühle zu entwickeln, da er schon früh gelernt hatte, seine Gefühle zu verbergen.

„Auch ich kann warten – auf den Tag, an dem sie nur eine Erinnerung ist, die man meidet, wegschließt, und wie alle Erinnerungen, eine Legende. Oder eine Lüge…“

S. 208

Hier spielt Jean Rhys schon an, was Antoinette blühen wird, sobald sie in England sind. Diese Verbitterung von Mr. Rochester lässt auf verletzte Gefühle, verlorene Träume aber auch auf ein fragiles Ego schließen. Ist dies die Entschuldigung dafür, dass er seine verwirrte Frau in England auf den Dachboden sperrt und verschweigt?

„Vor allem aber hasste ich sie. Denn sie gehörte zu der Magie und zu der Schönheit. Sie hatte mich durstig zurückgelassen, und mein ganzes Leben würde aus Durst und Sehnsucht nach etwas bestehen, das ich verloren hatte, bevor ich es fand.“

S. 207

Dies ist eine rein intuitive & persönliche Darstellung meiner Eindrücke. Wer will, findet im Internet Hausarbeiten und literaturkritische Fachmeinungen dazu.

Weitere Romane von Jean Rhys: „Guten Morgen, Mitternacht

Exposé über Jean Rhys „Skandalös, das Leben freier Frauen“

Zitate der großartigen Jean Rhys

Infos zur Autorin: Jean Rhys wurde am 24. August 1890 auf einer kleinen Karibik Insel geboren. Als sie 17 Jahre alt war, zog sie mit ihren Eltern nach England ins kalte und regnerische London. Als junge Frau lebte sie als mittellose Tänzerin bis sie ihren Mann kennenlernt und mit ihm nach Paris und später nach Wien zieht. Nach der Trennung wohnt sie wieder in Paris, wo sie mit dem Schreiben beginnt.  Entdeckt wird sie von Ford Madox Ford, dem Chef einer Pariser Zeitschrift. Er war begeistert von ihren Manuskripten und legte somit den Grundstein für ihren Erfolg. Sie starb am 14. Mai 1979 in England, wohin sie 1927 zurückkehrte.

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