Die Abgründe des Herzens sind tief.
Romandeutung
Fische ist ein Roman über eine obsessive Liebe, der Unwirkliches so selbstverständlich in einen Gegenwartskontext einbettet, dass es heutiger nicht sein könnte. Lucy verliebt sich in Theo, den Meermann, dessen Fischschwanz unterhalb der Lenden beginnt. Als Undine 4.0 zwingt er sie, alles, was sie über Liebe, Lust und die Bedeutung des Lebens zu wissen geglaubt hat, neu zu ordnen.
Ein phänomenales literarisches Debüt, das schlichtweg elektrisiert. Klappentext
Anscheinend waren wir anders als andere Menschen, bei uns lag eine Art Konstruktionsfehler vor, sodass wir mit der Liebe nicht zurechtkamen. Wir hatte dieselben Gefühle, aber leider zu viele davon.
Was für ein Buch. Die Meinungen bei diversen Portalen gehen meilenweit auseinander. Ich las mir viele Rezensionen durch und stellte fest, dass die Leser diesen Roman von Melissa Broder entweder hassen oder lieben. Das verunsicherte mich und ich beschloss den Roman nicht zu kaufen, obwohl mein Bauchgefühl etwas anderes meinte. Ich entschied mich erstmal zu schauen, ob ich ein Rezensionsexemplar bekomme. Tatsächlich: über Netgalley wurde ich fündig und durfte es mir auf meinen eBook runter laden.
Soll ich euch was sagen? Ich kauf es mir nach! Mein Bauchgefühl hatte wieder mal recht.
Natürlich ist diese Story ganz schön abgedreht.
Harmlos fängt sie an: Lucy trennt sich von ihrem Freund. Der hat gleich darauf wieder eine Neue. Um Abstand zu gewinnen, soll Lucy für ein paar Wochen von Phoenix nach Venice Beach zu ihrer Schwester ins Haus ziehen. Der Plan dort ist Jamie zu vergessen (gelingt ihr nicht), ihre Doktorarbeit endlich fertigzustellen (naja) und den Hund der Schwester zu hüten, während diese in Europa rumreist (großer Fehler). Gelangweilt und frustriert tingelt Lucy von einem Tinder Date zum Nächsten. Vernachlässigt ihre Pflichten und ihre innere Leere wächst.
Bei manchen Beschreibungen aus Lucys Sexleben musste ich ab und zu schlucken oder etwas angeekelt die Nase rümpfen, aber ich verurteile sie und ihr Verhalten nicht. Es passt zur Protagonistin und ist absolut glaubwürdig. Ich entschied mich wertfrei bis hin zu amüsiert über diese Szenen drüberzulesen.
In einer Selbsthilfegruppe kommt Lucy in Kontakt mit anderen Frauen, die scheinbar ebenso süchtig nach Liebe und Aufmerksamkeit sind und lernt dadurch verschiedene Verhaltensmuster und Schicksale kennen. Außnahmslos alle sind abhängig von Bewertungen und Verhalten anderer und machen sich somit zum emotionalen Spielball und lassen sich leichtfertig in Situationen bringen, die sie seelisch krank machen und sogar ihr Leben zerstören.
Am meisten hat mich die Psychologie in diesem Roman fasziniert. Lucy hat einen sehr komplexen Charakter: bindungsunfähig, traumatisiert, depressiv, ängstlich, promiskuitiv, suchtgefährdet, lethargisch, unzuverlässig und süchtig nach Aufmerksamkeit und Emotionen. Das ganz große Drama eben.
„…in meiner paranoiden, verzerrten Wahrnehmung, meiner Unsicherheit, meiner ewigen Angst vorm Verlassenwerden hatte ich den geringsten Mangel an Aufmerksamkeit als fatales Nachlassen seines Begehrens interpretiert. …Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich nicht wusste, ob ich zu wahrer Liebe fähig war.“
Doch Lucy ist ebenso romantisch, poetisch, liebenswert, vergebend, emphatisch, sinnsuchend, gebildet, großzügig und tolerant.
Also wirklich, wer verliebt sich schon in einen Meermann auf den Felsen vor Venice Beach?
Jetzt kommt der magisch, mystische Teil: Lucy lernt Theo den Meermann kennen. Durch ihn erfährt sie erstmals eine allumfassende Liebe und das Verschmelzen zweier Seelen. Mir kam es so vor, dass beide im Laufe des Geschehens teilweise die Rollen tauschten, nicht nur im Sinne von Genderstereotypen. Sondern Lucy beginnt etwas Wichtiges zu begreifen: ihre innere Leere wird nach und nach gefüllt mit Selbstvertrauen und gesundem Kontakt zu sich selbst.
Ich war mir sicher, nichts zu fühlen als Liebe, und falls es keine Liebe war, sondern nur Lust und Besessenheit oder eine Simulation von Gefühl – tja, dann bitte schön. So sollte Liebe sich anfühlen. Das war die Liebe, die ich wollte. S.259
Die wissenschaftliche Doktorarbeit über Sappho – die sie zu Ende schreiben soll – wandelt sich ein Schriftstück voller Gefühle und Geheimnisse des Lebens. Und so wie sich die Sicht auf Sappho verändert, wandelt sich Lucy mit. Sie akzeptiert Dinge die man nicht erklären und ergründen kann und lernt ihren Gefühlen zu vertrauen.
Am Ende widersteht Lucy dem Sog der Dunkelheit und Leere und versucht ihr Leben in eigene Hände zu nehmen.
„Gutgemeinter Rat“: wer sich als Leser psychisch in einer labilen Phase befindet, bei dem kann dieses Buch einiges in Bewegung bringen und die Stimmung beeinflussen.
Ich danke Netgalley Deutschland und dem Ullstein Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars per eBook. Dies hatte keinerlei Einfluss auf meine Meinung!
Mein Versuch diesen zwiespältigen Roman zu deuten oder warum Lucy einen Platz in meinem Leserherzen hat
Warum gerade Sappho?
Sappho wird häufig in Verbindung mit lesbischer Liebe gebracht. Doch ich denke im Bezug auf diesen Roman gibt die Autorin der griechischen Dichterin die Rolle der Liebe zur Frau in sich selbst zu suchen. Nämlich ein Appell an die eigene Weiblichkeit und diese zu ehren und wertzuschätzen. Im Bezug auf Lucy, die ein selbstzerstörerisches Verhalten aufzeigt, ist Sappho vielleicht die Retterin ihrer eigenen Psyche. Durch Selbstliebe und wertschätzende Liebe von Frau zu Frau (nicht sexuell gesehen – soweit man überhaupt solche Trennungen vornehmen kann) lernt Lucy sich selbst anzunehmen und ihr somit ihre Rolle als jüngere Schwester und auch der verlorenen Tochter – da ihre Mutter früh starb. Nach Überlieferungen besingt Sappho auch die mütterliche Liebe zu ihrer Tochter. Dies ist etwas was Lucy ihr Leben lang, durch den frühen Verlust, vermisst hat. Durch das Verlassenwerden beider wichtiger Figuren in ihrem Leben, hat Lucy sich innerlich selbst verlassen.
„Ich wollte sie lieben, wie sie es nie geschafft hatte, mich zu lieben: indem ich blieb, auch wenn es schmerzhaft für mich war.“
Deutungsversuch zum Titel Fische
Wie Fische so schlüpfrig und kalt könnte man diese Eigenarten auch auf Lucy übertragen?
Schlüpfrig, da sie sich von niemanden festhalten lässt. Sie braucht die Möglichkeit wieder in die Freiheit zu gelangen nachdem sie versucht hatte mit glänzenden, schönen Schuppen (Freizügigkeit, Sex) alle Aufmerksamkeit zu bekommen.
„In ihrer Abwesenheit fand ich Männer aufregend; waren sie da, sah es schon wieder anders aus.“
Kalt, da Lucy einen inneren Abstand brauchte um sich überhaupt jemanden nähern zu können. Diese Distanz, um in einer engen Bindung zu überleben, könnte ihr als Gefühlskälte ausgelegt werden und ist dennoch für sie wichtiger Selbstschutz.
Diskussion?
Wenn ich noch ein paar weitere Tage über diesen Roman nachdenke, fallen mir bestimmt noch mehr Punkte ein. Gerne würde ich mit Euch über diesen Roman diskutieren. Habt Ihr Lust? Immerzu! Her mit Euren Kommentaren.