„Die Männer wissen nicht, wer wir sind.“
Das Tanzen am Abgrund beherrschen ihre Protagonisten in Perfektion. Leïla Slimani erschafft weibliche Charaktere die jeden Psychologen gespannt aufrecht im Sessel sitzen lassen.
Ich stelle Euch hier zwei großartige Werke der Autorin vor
All das zu verlieren

Nach außen hin führt Adèle ein Leben, dem es an nichts fehlt. Sie arbeitet für eine Pariser Tageszeitung, ist unabhängig. Mit ihrem Ehemann, einem Chirurgen, und ihrem kleinen Sohn lebt sie in einem schicken Viertel, ganz in der Nähe von Montmartre. Sie reisen, sie fahren übers Wochenende ans Meer. Dennoch macht Adèle dieses Leben nicht glücklich. Gelangweilt eilt sie durch die grauen Straßen, trifft sich mit Männern, hat Sex mit Fremden. Sie weiß, dass ihr die Kontrolle entgleitet. Sie weiß, dass sie ihre Familie verlieren könnte. Trotzdem setzt sie alles aufs Spiel. Klappentext
Adèle ist eine Frau mit äußerer gutbürgerlichen Fassade, aber innerlich leer und ihre Seele scheint weit weg. Für mich eine psychologisch hochinteressante Charakterzeichnung einer Frau, die scheinbar alles hat und doch alles sucht. Zwiespältig, ängstlich und trotzdem geht sie auf volles Risiko. Als hätte sie Angst um ihr Leben und doch wirft sie es weg. Innere Leere treibt sie beinahe nymphoman in sexuell außergewöhnliche Situationen. Sie erinnern an Rape-Fantasien zwischen zwei zustimmenden Erwachsenen und scheinbar unstillbarer Lust, die nie gänzlich befriedigt werden kann. Die depressive Leere die sie in sich spürt, kann niemand von außen ausfüllen.
„Denn die Seele war gerade dadurch erregt, daß der Körper gegen seinen Willen handelte, daß er sie verriet und sie diesem Verrat zuschaute.“ S. 127
„Ihr ging es nicht um die Körper, sondern um die Situation.“ S. 128
Trotz ihrer vielen Affären hat Adèle zu ihrem Mann eine besondere Verbindung. Ihr Mann Richard ist Chirurg und liebevoller Vater doch mit wenig Zeit für die Familie. Er weiß um ihre Ausflüchte und es wird dem Leser nicht ganz klar ob es tiefes Verständnis, ein schlechtes Gewissen oder Akzeptanz der wideren Umstände sind. Letzteres wäre pure Ignoranz und Narzissmus die Perfektion der Familie in der Öffentlichkeit hoch zu halten und Adèle mit ihrer selbstzerstörerischen Persönlichkeit dafür den Preis zahlen zu lassen.
„Man betrügt nicht denjenigen, der einem verziehen hat.“ S. 217
„Er wird sie suchen gehen, egal, wo sie steckt. Er wird sie zurückbringen. Er wird sie nicht mehr aus den Augen lassen.“ S. 217
Richard ist in dem Buch eine Rand- sowie Schlüsselfigur die Adèle Sicherheit und Halt gibt, vor der sie aber immer wieder ausbricht. Enge gegen die sie aufbegehren wird und Halt den sie trotzdem so sehr braucht.
Adèles Mutter ist eine weitere Schlüsselfigur in diesem Roman. Narzisstin durch und durch und im Grunde genommen verantwortlich für die rastlose Seele und Psyche ihrer erwachsenen Tochter.
„Unzufriedene Menschen zerstören alles um sich herum.“ S. 205
Dabei überträgt sie ihre eigene Unzufriedenheit mit Vorwürfen auf ihre Tochter.
Ein wirklich sehr interessanter Roman mit faszinierenden Charakteren!
Dann schlaf auch du
Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2016.

Sie wollen das perfekte Paar sein, Kinder und Beruf unter einen Hut bringen, alles irgendwie richtig machen. Und sie finden die ideale Nanny, die ihnen das alles erst möglich macht. Doch wie gut kann man einen fremden Menschen kennen? Und wie sehr kann man ihm vertrauen?
Sie haben Glück gehabt, denken sich Myriam und Paul, als sie Louise einstellen – eine Nanny wie aus dem Bilderbuch, die auf ihre beiden kleinen Kinder aufpasst, in der schönen Pariser Altbauwohnung im 10. Arrondissement. Wie mit unsichtbaren Fäden hält Louise die Familie zusammen, ebenso unbemerkt wie mächtig. In wenigen Wochen schon ist sie unentbehrlich geworden. Myriam und Paul ahnen nichts von den Abgründen und von der Verletzlichkeit der Frau, der sie das Kostbarste anvertrauen, das sie besitzen. Von der tiefen Einsamkeit, in der sich die fünfzigjährige Frau zu verlieren droht. Bis eines Tages die Tragödie über die kleine Familie hereinbricht. Ebenso unaufhaltsam wie schrecklich. Klappentext
Wieder zeichnet die Autorin komplexe Mütterfiguren, die durch erlebte Enge und sozialer Einsamkeit an ihre Abgründe getrieben werden.
Louise, die hochgelobte Nanny macht sich innerhalb weniger Wochen unentbehrlich und nimmt nach und nach Einfluss auf das Familienleben. Aus ihrer Aufopferung zieht sie ihre größte Wertigkeit und wird auf subtil übergriffige Art und Weise Teil der Pariser Familie.
„Man sieht sie an, und man sieht sie nicht. Ihre Anwesenheit ist so intim wie unaufdringlich.“ S. 55
Myriam ist hin und hergerissen zwischen ihrem Karrierewunsch und der Vorstellung eine gute Mutter zu sein. Die Möglichkeit Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, treibt Myriam weg von ihren Kindern und diese in die Arme der Kinderfrau. Oft sieht sie ihre beiden Kinder unter der Woche nur spätabends oder manchmal auch gar nicht. Erleichtert stürzt sie sich auf die Fälle der Kanzlei und genießt diese Flucht aus der Enge der Familie. Und doch ist sie voller Schuldgefühle und möchte ihren Kindern wieder nah sein. Der Konflikt zwischen Freiheit und Verantwortung ist bei ihrer Figur deutlich spürbar.
„Sie hat keine Lust, nach Hause zu gehen. Sie möchte niemanden Bescheid sagen müssen, möchte, dass niemand sie erwartet.“ S. 40
Während Paul und Myriam ihren Job nachgehen und ihre Kinder in den wohlbehütenden Armen ihrer Nounou wissen, betreibt diese unterdessen schwarze Pädagogik. Louise verbindet Spiel und Ängste auf perfide Art und Weise ohne das die Kinder oder das Umfeld es bewusst bemerken. Durch diese Methodik will sie sich bei den Kindern unentbehrlich machen. Erst Angst einflößen und dann trösten. Von ihrer eigenen Tochter verlassen, klammert sie sich an die Liebe ihrer Pflegekinder. Als sie merkt, dass ihre Zeit mit Mila und Adam bald vorbei sein könnte und sie nicht mehr lange gebraucht wird, verändert sich ihr Verhalten drastisch. Sie wird depressiv und vernachlässigt die Kinder. Finanzielle Nöte spitzen die Lage zu und Louise entwickelt morbide Gedanken. Resigniert und genervt gestaltet sich der neue frustrierte Alltag ohne Aussicht auf eine glückliche Wendung.
„Sie ist Vishnu, die nährende, eifersüchtige und schützende Gottheit.“ S. 55
Fazit: Beide Bücher, welche ich von Leïla Slimani gelesen habe, kann ich wieder mal ausnahmslos empfehlen. Die Autorin ist zurecht eine der gefragtesten in Frankreich und ebenso weltweit. Spannende Charaktere und aufregend erzählt. Sie schreckt vor keinem Thema oder Stigma zurück: erweiterter Selbstmord, Sexbesessenheit, Depression, Borderlinestörung und das negative Erleben der Mutterrolle. In diesen beiden Werken setzt sie sich hauptsächlich mit weiblichen psychopathischen Rollen auseinander und gibt erschreckende und faszinierende Einblicke in düstere Seelen.
Der grandiose Erzählstil der Autorin sowie die sehr gelungenen Übersetzungen von Amelie Thoma überzeugen auf ganzer Linie.
Kurzbiografie der Autorin: Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Slimani, 1981 in Rabat geboren, wuchs in Marokko auf und studierte an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für den Roman »Dann schlaf auch du« wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. »All das zu verlieren«, ebenfalls preisgekrönt, erscheint in 25 Ländern. In den Essaybänden »Sex und Lügen« und »Warum so viel Hass?« widmet Leïla Slimani sich dem Islam und dem Feminismus sowie dem zunehmenden Fanatismus. Sie lebt mit ihrer Familie in Paris.
Autorin: Leïla Slimani // Übersetzerin: Amelie Thoma
ISBN: 978-3630875538
Hardcover erschienen im Luchterhand Verlag Mai 2019
Preis: 22€
Autorin: Leïla Slimani // Übersetzerin: Amelie Thoma
ISBN: 978-3630875545
Hardcover erschienen im Luchterhand Verlag August 2017
Preis: 20€ (Taschenbuch 10€)
Die Hardcover Ausgabe von „All das zu verlieren“ hatte ich beim Verlag als Rezensionsexemplar angefragt – vielen Dank dafür. Dies hatte keinen Einfluss auf meine Meinung.